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Die Plazenta aus der Sicht unserer Künstler

Gedanken zur Ausstellung „Mythos Geburt“ im Museum im Steinhaus in Bönnigheim

Uns treibt wieder die Frage:
Was liegt eigentlich hinter all diesen komplexen Funktionen und Abläufen in Organismen, die Wissenschaft und Medizin für sich in Anspruch nehmen, erklären zu können?

Wir möchten, um der Beantwortung einiger aufgeworfenen Fragen etwas näher zu kommen, Sie jetzt zu einem kleinen Exkurs über ein sehr seltsames Organ einladen, das Ihnen in dieser Ausstellung mehrfach und in unterschiedlichen Formen, Materialen und Interpretationen durch verschiedene Künstler begegnete.

Von einem Organ, das nur temporär und in nur ca. 50% der Bevölkerung zu finden ist, mit dem aber alle einmal verbunden waren.

Es ist die Plazenta.

Wenige von Ihnen haben Sie je gesehen bzw. bewusst wahrgenommen. Sie führte im wahrsten Sinne des Wortes ein Schattendasein. Beim Vorgang der Geburt spielt sie nur insofern eine Rolle, dass ein kritisch prüfender Blick der Hebamme auf ihre Unversehrtheit und Vollständigkeit, den physisch und psychisch grenznahen Geburtsvorgang endlich abschließt.

Und damit könnte unsere Einführung bereits beendet sein, denn alles scheint gesagt. Wenn da nicht eine seltsame Ausstrahlung und Faszination des idealrunden Organs mehr über unser Dasein verrät, als wir es zunächst vermuten.

Zu wem eigentlich gehört die Plazenta? Zur Mutter? Zum Kind? Oder ist sie Weltenwanderin?

Rein genetisch ist sie größtenteils kindlich, neu verschmolzenes mütterliches und väterliches Erbgut. Und damit ist sie gewissermaßen dem mütterlichen Organismus fremd und müsste abgestoßen werden. Doch die Alarmanlage ist rätselhaft außer Betrieb gesetzt. Mit einer Seite sitzt die Plazenta sehr fest im Uterus, hat sich regelrecht in die Mutter eingewachsen. Zum Kind führt nur eine flexible Verbindung: ein Schlauch, ein Kabel, ein Nabel. Und doch neigen wir eher dazu, sie dem Kind zuzuordnen. Schließlich ist es Voraussetzung, dass die Plazenta überhaupt entsteht. Oder bilden sich beide zeitgleich in früh vertrauter Absprache aus dem vielgeteilten Eihaufen. Die Plazenta nimmt ihre Aufgabe überaus ernst, ist unermüdlich und universell.

Sollte der Fötus frühzeitig nicht lebensfähig sein, entwickelt sie sich dennoch weiter, als wäre nichts geschehen. Gleichsam als würde sie vielleicht dennoch gebraucht. Sie ist also Mittlerin: regelt Bedarf, Nachfrage und Angebot von Mutter und Kind, drosselt bei Überschuss, fordert bei Bedürfnissen. Ein Harmonieprinzip muss da innewohnen, Ausgleich unter Anerkennung der Gegenpole.

Und sie ist Filter: für den Embryo schädliche Einflüsse und Eindringlinge erkennt sie und hält sie auf.

Die Plazenta ist Transformator: als würde man versuchen den Küchenmixer direkt an den Stromerzeuger im Elektrizitätswerk anschließen, gleicht sie subtil zwischen den unterschiedlichen Entwicklungsstadien von Mutter und Kind aus. Genaueste Abstimmung benötigter Energien.

Sie ist Hülle: bietet den Entfaltungs- und Berührungsraum für 800 Kilometer kindlich-mütterliches Adernetz, das nie direkt miteinander verbunden ist, sondern sich sanft berührt und osmotisch austauscht. Alle 10 Minuten wird das gesamte mütterliche Blut hier umgewälzt. Das Reiche gibt ab, das Arme nimmt auf. Und das Ganze funktioniert auch umgekehrt. Durch das Kind verbrauchte Stoffe und Gifte werden abtransportiert und der Mutter wieder zugeführt.
Die Plazenta tut dies also klaglos. Denn weise wurde darauf verzichtet, sie mit zu sensiblen Sensoren auszustatten. Nervenfasern sind in ihr nicht zu finden. Sie hält sich heraus aus dem pränatalen Gefühlsleben. Das schwammige, runde Kissen ist unsere erste Lagerstätte. Eine durchaus paradiesische Situation im Mutterleib. Weich gebettet auf großporigem Polster, umhüllt von einem durchscheinenden Damentank, der angefüllt mit warmer Flüssigkeit alle Geräusche dämpft. Und Nahrung gibt es auf Wunsch und ohne Suche.

Die Plazenta ist weise. Sie lässt los im rechten Augenblick. Im Vorgang der eigentlichen Geburt, den sie gar selbst mit einleitet, achtet sie bis zum letzten Moment auf die Versorgung. Erst wenn der Neuankömmling das Signal sendet: ich bin auf dieser Welt angekommen, pumpt sie sich mit letzten Anstrengungen aus – und stirbt!

Sie muss nun den mütterlichen Organismus verlassen, sie wird nachgeboren. Und sie muss das Kind freigeben. Nur damit wird ihm die Möglichkeit gegeben, das eigene Potential zu erkennen und zu leben. Nur die konsequente Trennung von der passiven Versorgung setzt eigene Kräfte frei.

Es gibt viele Bilder und Assoziationen für den Zusammenhang zwischen Geburt und Tod, aber am Beispiel der Plazenta wird es überdeutlich und zwingend. Für etwas neu Entstehendes muss auch etwas aufgegeben werden. Vielleicht erscheint in diesem Falle der Preis bezahlbar. Ein ohnehin nicht mehr benötigtes Organ gibt seine Funktionen auf und stirbt ab. Das neugeborene Leben erscheint uns um vieles wertvoller und willkommen geheißen, als dass man um die Plazenta trauern möge. Im Gegensatz zum Kind ist sie die Verworfene, Missachtete. Ein Trennungsschmerz wird nicht wahrgenommen, alle Aufmerksamkeit liegt vollständig auf dem Neugeborenen.

Die Plazenta wird deshalb nach der Geburt entsorgt. Das Misstrauen gegenüber der totgeborenen Helferin ist in heutiger Zeit groß. Ich habe es selbst bei jahrelang praktizierenden Hebammen beobachtet. Eine tief verwurzelte Angst vor dem, was sich aus der Leibeshöhle windet, überdeckt die Achtung oder zumindest die Neugier.

Wurden aus ihr vor einigen Jahren noch Hormone für Schönheitscremes extrahiert, wird sie heute im Zeitalter von Aids gern als granulierter Brandbeschleuniger eingesetzt.

In vielen Kulturen wurde und wird sie anders bewertet. Dem Pharao in Ägypten wurde die mumifizierte Plazenta als Seelenverkörperung in Form einer Standarte vorausgetragen. Es gibt unzählige Bestattungsriten des Vergrabens, Verpackens und Ablegens, des Trocknen und Verwässerns meist verbunden mit magischen Praktiken, um gute Geister anzurufen und schlechte Geister zu bannen.

Was einmal so eng mit dem Kind verbunden war, hat weitere Strahlkraft auf sein Schicksal. Bei Hildegard von Bingen finden wir Rezepte für kräutergefüllte Plazenten. Hier wird die Nachgeburt zum Nachtisch. Pulverisierte Plazenta war in jeder gut sortierten Apotheke zu finden. Noch in einem Handbuch der Geburtshilfe von 1768 finden sich leidenschaftliche Erörterungen über die Frage, ob Adam nach der Geburt seiner Nachkommen den Mutterkuchen selbst aufgegessen habe.

Wir sind also gar nicht so allein im mütterlichen Leib. Es wird vom Bruder, gar vom Zwilling gesprochen. Jedenfalls von einer anderen Dimension der Nähe und Verbundenheit als der eines perfekten Versorgungs- und Entsorgungssystems. Wir werden getrennt von unserer Plazenta und erleben diesen ersten Verlust nicht bewusst, aber es bleibt das Gefühl, sich von der paradiesischen Einheit entfernt zu haben. Wir sind vor der Geburt vollständiger als nach ihr.

Die Medizin leitet zurzeit ein Comeback der Plazenta beziehungsweise eines Teils von ihr, der Nabelschnur, ein. Die Stammzellengewinnung aus Nabelschnurblut mit der erhofften Züchtung körpereigener Gewebe und Organe bringt den Traum vom Jungbrunnen, der Befreiung von Krankheit und Siechtum und der endgültigen Unsterblichkeit wieder ernsthaft aufs Tablett.

Aber es ist wieder eine Betrachtung unter dem Vorzeichen der Verwertbarkeit. Sollten sich die Methoden als Sackgasse erweisen, wird die Plazenta wohl endgültig aus dem kulturellen Bewusstsein entfallen.

Die Plazenten, denen Sie hier in der Ausstellung „Mythos Geburt“ begegneten, wurden von Künstlern gestaltet. Sie verkörpern als transformierte Objekte auch eine Weiterführung des Volksbrauches, sie durch Bestattung in irdenen Gefäßen dem alltäglichen Vergessen zu entreißen, bestimmte Wünsche und Vorstellungen daran zu koppeln und sie somit einer geistigen Dimension zugänglich und reflektierbar zu machen.

In all der unterschiedlichen Sicht der einzelnen Künstler, sozusagen der subjektiven, postnatalen Diagnostik, der daraus entspringenden künstlerischen Haltung und Formung stellen sie vereint die verschiedenen Möglichkeiten des In-der-Welt – Seins dar.

Hier wurde Ihnen viel erzählt vom Mythos Geburt.

Für uns ist es in erster Linie die Verbeugung vor einem faszinierenden Organ.

Vielen Dank.